Man muss sich das so vorstellen: 1994 liefen im deutschen Kino "Der bewegte Mann", "Voll normaaal" oder "Abgeschminkt". Schauplätze: Köln, München. Die Protagonisten in diesen Filmen übten folgende Berufe aus: Homosexuell (ohne weitere Angaben), Vollidiot, Cartoonistin, darüber hinaus Architekt oder Journalist. Helmut Kohl trat seine vierte Amtszeit an, das Land wirkte wie gelähmt, vor allem aber kulturell ausgeblutet. Die geistig-moralische Wende der CDU hatte dem Neuen Deutschen Film bereits vor zwölf Jahren den Geldhahn abgedreht. Nachfolger waren weit und breit nicht in Sicht. Gab es denn keine Themen in Deutschland ausser eine homo-heterosexuellen Verwechslungsklamotte oder anderen Beziehungskisten? War nicht die Mauer gefallen? War Berlin denn nicht die spannendste Stadt des Universums? Fehlanzeige. Mauerfall oder Ost-West-Annäherung kamen im deutschen Kino gar nicht vor. So war das als Produzent Stefan Arndt und die Regisseure Wolfgang Becker sowie Tom Tykwer einen eigenen Verleih gründeten (angeblich in ihrer WG-Küche). X-Filme Creative Pool sollte so etwas wie die United Artists werden. Ein Filmverleih von Künstlern für Künstler! Es ging um wirtschaftliche Unabhängigkeit! Ein deutscher Indie! "Stille Nacht" von Dani Levy hiess die erste Eigenproduktion ein Jahr nach der Gründung. 1997 konzipierte man gemeinsam "Das Leben ist eine Baustelle" nach dem Drehbuch von Tom Tykwer und Wolfgang Becker (auch Regie). Als ich "Das Leben ist eine Baustelle" im Kino sah, interessierte ich mich zum ersten Mal seit ewiger Zeit wieder für einen deutschen Film! Das war keine Verkleidungs-Komödie, diese Protagonisten waren echt! "Das Leben ist eine Baustelle" drang tief ein in die Kreuzberger Altbauten, hinein in die Wohnungen der Prolls, die dort lebten. Wie sie vor der Glotze Horrorfilme erraten und den Kindern beibringen, das nur Fleisch gesund ist. Die Protagonisten hier waren Hilfsarbeiter, Kleinkünstler oder arbeitslos. In der schönsten Szene wandeln Christiane Paul und Jürgen Vogel ziellos über den Alex. Im Hintergrund ein Bauzaun, worauf steht: Die Liebe in den Zeiten der Kohl-Ära. So fühlten wir damals! War es denn nie vorbei mit dem Dicken? Trotzdem entwickelte sich etwas in unserer Stadt, das uns auch weiterhin vom Rest der Republik abtrennte. Wir waren nicht mehr eingemauert in West-Berlin, aber immer noch umkreist von Brandenburg oder Lichtenberg. Umkreist von Nazis und ihren "national befreiten Zonen". "Das Leben ist eine Baustelle" wirkte elegant, obwohl er tief im Proletariat verankert war. Mit sanft surrealisitischen Sequenzen und einer fast unwirklichen Atmosphäre! Genauso sollte Kino sein! Im selben Jahr erschien "Winterschläfer" von Tom Tykwer. Eine Geschichte um Schuld und auch Vergebung. "Winterschläfer" erinnerte mich eher an die Filme Kieslowskis als an "Das Leben ist eine Baustelle", bot aber auch diesen Reiz des Neuen! 1998 dann inszenierte Tykwer "Lola rennt" und aufeinmal wurde die ganze Welt aufmerksam auf diesen kleinen Berliner Verleih. "Lola rennt" handelt vom Schicksal. Entscheidet sich Lola, diesen Schritt zu tun, zieht das jene Ereignisse nach sich. Rennt Lola hier entlang, stirbt ihr Freund Manni, läuft sie aber dort entlang, stirbt er nicht. Im Gegensatz zu uns hat Lola aber eine Wahl! Tykwer gestaltete "Lola rennt" postmodern. Für mich war das damals synonym mit "Mindgame" = die Handlungsstruktur liegt verschlüsselt vor uns. Die Bilder lügen. Comic-Sequenzen und ein Soundtrack, der sich vor dem Rausch des Techno verbeugt, passten zu Franka Potentes roten Haaren, die sie als Lola trug. Bestimmt hat Tykwer mit seiner Lola den poppigsten aller metaphysischen Filme erschaffen! Und mit Potente den ersten deutschen Star seit Nastassja Kinski! Leider muss ich zugeben, dass ich Lola weder damals noch heute mochte. Was mich da störte, konnte ich 1998 noch gar nicht benennen. Heute weiss ich es: "Lola rennt" ist hipster! Besser gefiel mir "Absolute Giganten", den Sebastian Schipper (Victoria) bereits damals, 1999, in einer Nacht spielen liess. Drei Hamburger Jungs verbringen diese, ihre letzte Nacht, miteinander, bevor es richtig ernst wird im Leben. Ich denke, jeder Gast unserer Filmkunstbar Fitzcarraldo durfte sich in ihnen wiedererkennen und das erklärt auch, weshalb "Absolute Gigante" so gigantisch oft nachgefragt wird! 2007 gelang x-Filme der zweite Welterfolg. Wolfgang Becker rekonstruierte in zehnjähriger Vorarbeit die DDR auf 40 Quadratmetern. Ein Ausstattungsfilm, der die damalige Ostalgie-Welle voll bediente. Alles war hier echt, sogar die Spreewaldgurken! Becker entdeckte sogar den nächsten Star des x-Verleihs: Daniel Brühl. Brühl spielt den Sohn, der seiner kranken Mutter einfach die DDR nachbaut, um sie nicht mit der neu-deutschen Wirklichkeit zu schockieren. Wie jeder grosse Film funktioniert "Good Bye Lenin" regional und spricht genau deshalb ein internationales Publikum an. Kein amerikanischer Zuschauer konnte den "schwarzen Kanal" kennen, aber jeder verstand diese Geschichte, die um Entwurzelung, Vergangenheit und Familie kreiste. Einen Oscar gabs nicht für "Good Bye Lenin", aber so traumafte Einspielergebniss, dass x-Filme langsam zu klein geworden war für den eigenen Erfolg... Der deutsche Filme hatte sich durch x-Filme jedenfalls gewandelt. Kunst und Kommerz schlossen sich nicht mehr aus. Operierte der Neue Deutsche Film der 70er noch sehr didaktisch, versuchte x-Filme sein Publikum intelligent zu unterhalten. Ein bisschen schade fand ich es, als immer mehr produziert wurde und man den Überblick verlor. Irgendwann fühltesich wohl auch Stefan Arndt überfordert und trat als Geschäftsführer zurück, während Tom Tykwer in Hollywood arbeitete. Heute widmet sich x-Filme nicht mehr explizit unserer Stadt oder einer neuen "anti-deutschen" Komödie. Nach wie vor werden gute Filme produziert, es fehlt aber das Unikat. (Wir stellen nicht die Filme, nur die links zur Verfügung) (Bild: https://www.google.de/search?biw=1252&bih=582&tbm=isch&sa=1&q=x-filme+v…:)
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Kommentare
Eure letzten KommentareHat ja keinen sehr guten Ruf
Hat ja keinen sehr guten Ruf mehr, der Verleih
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Die ersten Jahre waren am
Die ersten Jahre waren am spannendsten - wie das immer so ist.
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